Da war sie, die Frau, die kein Gewicht hatte. Sie war kaum zu erkennen. Ein paar Linien wie ein Lufthauch umspielten sie. Sie hatte schon im Kindergarten gelernt, dass eine Kuh im Bilderbuch lila sein könnte, denn eine richtige Kuh in der Natur hatte sie nie gesehen. Sie lebte seit ihrer Geburt in der Stadt.

Sie dachte  sich,  so zu perfekt zu sein, wie die Menschen  auf ihren Instagrambildern. So hatte sie  sehr früh die Idee, sich selbst den vielen Bildern anzugleichen, die sie täglich sah. Einmal probierte sie, sich große Muskelpakete anzutrainieren, dann wiederum ihren schlankeBeine durch Lauftraining zu verlängern. Monatelang lebte sie nur von grünem Gemüse und Wasser. Ihre Klamotten bestellte sie online mit der Größe „Size Zero“. Es war ausserdem günstiger im Einkaufspreis, denn es wurde weniger Stoff verbraucht, was dem Umweltgedanken näherkam. Um anders zu sein, versuchte sie dann ihre eigene Story auf Instagram zu posten, mit der Intention, dann noch bessere Bilder zu posten, als sie schon gesehen hatte. Die Idee, gar kein sichtbares Gewicht zu haben bzw. weniger als die anderen, gefiel ihr.

Wenn sie sich morgens im Spiegel betrachtete, dann sah sie eine dicke Frau und spürte den Drang, doch noch ein zweites Mal zu schauen, ob sie sich in ihrer Betrachtung vielleicht geirrt hatte. Sie knipste das Licht an und aus, um zu sehen, ob es am Lichtschatten bzw. der Helligkeit lag, dass sie so dick erschien. Wenn das nicht half, stellte sie sich auf die Waage und prüfte genau, ob die Zahl auf dem Display im Vergleich zum Vortag nicht erhöht war. So ging das jeden Tag.

Nachdem sie täglich Momentaufnahmen vor dem eigenen Spiegel machte und diese Fotos mit speziellen Retuscheprogrammen bearbeitet hatte, war sie erneut hin und her gerissen.

Sie wollte endlich einmal ein Intervallfasten probieren und somit den Prozess des kurzfristigen Gewichtsverlustes erfahren, damit sich der feine Hauch ihrer Materie in ein ästhetisches Nichts modifizierte. Sie begann zunächst mit einem Wochenende. Die Spiegelroutine blieb bestehen und aus reiner Neugier, fing sie an, ihre Taille abzumessen.  Und tatsächlich, sie hatte wieder ein Kilo verloren. Jetzt öffnete sie  wieder das Retuscheprogramm an ihrem PC geöffnet und siehe da, der Vergleich mit den gestrigen Bildern zeigte einen deutlichen Unterschied ihrer Silhouette. Ein tolles Ergebnis! Auf ihrer Couch schaltete sie den Fernseher ein und  verfolgte intensiv eine Sendung, die sich ausschließlich mit den Wirkungsweisen von Zimt beschäftigte. Das war ein hochinteressanter Beitrag, denn Zimt konnte die Stoffwechselgeschwindigkeit im Körper beschleunigen. Ihre Gedanken gingen im Zickzack – Modus durcheinander und sie hatte erneut eine Idee. Wenn sie jetzt einen hochwertigen Zimtbooster kaufen würde, am besten aus Amerika, weil es meist hochdosierter war, konnte sie schneller das gewünschte Ziel erreichen.

Gesagt, getan. Das Paket mit dem Zimt trudelte bei ihr ein. Ein Messlöffel war dabei. Es sollte ein Messlöffel mit Zimt pro Tag dem Essen zugefügt werden. Das war auf dem Beipackzettel markiert. Die Frau ohne Gewicht jedoch dachte sich, dass bei der Einnahme von zwei Messlöffeln, die Stoffwechselgeschwindigkeit verdoppelt werden könnte. Und so geschah es.

Sie nahm ab jetzt zwei Messlöffel Zimt in ihr gefiltertes reines Wasser und trank die Wasserzimtmischung auf einen Hieb aus. Sie kam auf die Idee, eine weitere Wiegewaageeinheit und die Maßbandmessung ihrer Taille auch am Abend durchzuführen, denn tagsüber war das Gewicht generell mehr als morgens. Dieser Zustand war für sie stark bedrückend. Die Retuschebilder wurden zur ergänzenden Abendgestaltung. Auf ihrem Instagram gab es eine immer größere werdende Zahl von Besuchern. Das erfreute sie natürlich und spornte sie an, noch mehr Einsatz zu zeigen. Sie kam auf die neue Idee, dass sie noch weniger wiegen wollte.

Sie retuschierte auch diesmal ihre Bilder und eliminierte alles heraus, was sie an sich nicht mochte. Es blieben feine kontrastierende Linien mit diversen Schattierungen übrig. Die Besucherzahlen auf ihren Social Media Kanälen fielen rapide, denn Schatten und Linien hatten kein Gewicht bzw. keinen Inhalt mehr…Wo war die Frau geblieben?

 

Wer eine weitere Idee hat, wie die Geschichte weitergehen könnte, schreibt mir seine Variante an grit@fitmitgrit.com.

 

 

 

 

 

Blog 48 Die Frau ohne Gewicht

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