Im Leistungssport gilt GRIT – also Durchhaltevermögen – als ein wichtiger Prädiktor für langfristigen Erfolg. Ben Heuser hat zu diesem Thema den Kampfsportler Sven Groten interviewt. Sven ist 30 Jahre alt, leitet ein Brazilian Jiu Jitsu Gym in Köln und ist als Wettkämpfer und Coach auf internationalem Niveau erfolgreich.

Ben: Was ist eigentlich Brazilian Jiu Jitsu?

Sven: Man kann sich Jiu Jitsu wie ein Geschwisterkind von Judo und Ringen vorstellen. Die Elemente aus diesen beiden Sportarten sind das Werfen des Gegners und das Verhindern, dass er wieder aufsteht. Der Fokus beim Jiu Jitsu liegt dann allerdings nicht so sehr auf dem Werfen, sondern auf der Kontrolle am Boden und – das kennt man aus dem Judo – darauf, den Gegner zur Aufgabe zu zwingen, maßgeblich über Gelenkhebel und Strangulation, also Würgegriffe. Der Gegner hat dann die Möglichkeit, durch Abklopfen aufzugeben, bevor Schaden entsteht. Das klingt erstmal furchtbar brutal, ist aber tatsächlich weit weniger gefährlich als die meisten anderen Kampfsportarten, bei denen im Vollkontakt geschlagen und getreten wird, da man beim Jiu Jitsu nur sehr selten bleibende Schäden hinterlässt.

Ben: Und wie bist du zu dem Sport gekommen?

Sven: Ich habe mit 6 Jahren mit Judo angefangen, denn bei mir auf dem Dorf gab es nur einen Fußballverein, einen Judoverein und einen Ringerverein. Fußball fand ich ab meinem ersten Eigentor blöd, weil ich der einzige war, der sich gefreut hat. Dann gab es noch Judo und Ringen und da ich diese Leibchen bei den Ringern etwas befremdlich fand und sowieso lieber so einen coolen Judoanzug anziehen wollte, bin ich dann zum Judo gegangen. Das habe ich dann eine Weile gemacht. Dann habe ich vor 9-10 Jahren zuerst den Umweg über das Ju-Jutsu genommen, was eine eher selbstverteidigungsorientierte Breitensportart ist. Und schließlich bin ich über einen Bekannten dann zum ersten Mal zum MMA (Mixed Martial Arts) bzw. Grappling gekommen. Anfangs habe ich dann auch eher auf MMA ausgerichtet trainiert, obwohl mir Jiu-Jitsu da schon am meisten Spaß gemacht hat, doch die Struktur damals hat es nicht zugelassen, nur BJJ zu trainieren. Und seit ca. 5 Jahren fokussiere ich mich ausschließlich aufs Jiu Jitsu.

Ben: Wie sieht eine typische Trainingswoche bei dir aus?

Sven: In der Regel bin ich 7 Tage pro Woche auf der Matte und mache ergänzend noch 2-3 Mal Krafttraining. Mittlerweile unterrichte ich auch fast alle Einheiten bei uns, gebe also das Training und mache selber mit. In der Wettkampfvorbereitung kommt dann noch spezielles Conditioning dazu, also sind es pro Woche um die 10 Trainingseinheiten.

Ben: Was ist deiner Meinung nach wichtiger für sportlichen Erfolg: Talent oder Beharrlichkeit?

Sven: Ich glaube nicht, dass es so etwas wie Talent gibt. Die landläufige Vorstellung von Talent ist ja folgendermaßen: Es gibt irgendwas in dir, dass auf eine ganz spezifische Tätigkeit anspringt und du kannst diese Sache dann viel besser als andere, mit viel weniger investierter Zeit und Arbeit. Die höchste Form davon wäre dann ein „Wunderkind“, das ohne etwas dafür zu können, in einer bestimmten Sache extrem gut ist. Und daran glaube ich nicht. Die Evidenz deutet eher da hin, dass es unterschiedliche Dispositionen zu Disziplin, Motivation, Anspruchshaltung an sich selbst etc. gibt. Aber es gibt kein „Jiu Jitsu-Gen“. Das Interessante an diesem Sport ist ja, dass es nicht mal einen idealen Körpertyp gibt. Basketballer beispielsweise sollten besonders groß sein, Jockeys besonders klein. Aber das sind eben physische Voraussetzungen, die mit dem Alltagsverständnis von Talent nichts zu tun haben. Und von daher erachte ich es als viel wichtiger, beharrlich zu sein.

 

Ben: Und würdest du dich selbst als beharrlich bezeichnen?

Sven: Ja. (lacht) Ich war schon immer furchtbar stur und hartnäckig, auch in anderen Lebensbereichen. Und selbst wenn es so etwas wie Talent gäbe, wäre das für mich überhaupt kein Faktor, weil man es nicht beeinflussen kann. Es wäre ja verschwendete Zeit, mich darüber verrückt zu machen, ob ich genug Talent habe oder nicht. Ich kann es sowieso nicht ändern, also ist es irrelevant. Bei Schülern ist das genauso: Mir ist es völlig egal, ob jemand hier reinkommt und offensichtlich eine Begabung dafür hat oder nicht, denn es ist nicht beeinflussbar. Ich glaube auch, es darf dir nicht zu leicht fallen, denn diese Leute hören schnell wieder auf.

Ben: Was bedeutet es denn für dich, hartnäckig zu sein?

Sven: Ich habe mit 19 mit dem Sport angefangen, und mit 17 hatte ich eine Knie-OP, nach der der Arzt mir gesagt hat, ich könne nie wieder irgendeinen Kampfsport machen, und hier bin ich. Im Endeffekt heißt Hartnäckigkeit, den ganzen Mist zu überwinden, der dich davon abhält, eine Sache zu erreichen. Wenn dir diese Sache wichtig genug ist.

Ben: Beschäftigst du dich auch außerhalb der Matte mit deinem Sport?

Sven: Verdammt viel. Einen Teil stellt die Wettkampfanalyse. Ich schaue mir sowohl meine Kämpfe, als auch die Kämpfe meiner Schüler an, um ihnen Feedback geben zu können, woran sie konkret arbeiten müssen. Dann schaue ich Kämpfe von 2, 3 bestimmten Athleten, um zu von ihrem Stil zu lernen. Außerdem schaue ich sehr viele Instructionals, also Technikvideos. Das stellt vermutlich den größten Teil dar. Und gedanklich beschäftige ich mich fast ununterbrochen mit Jiu Jitsu, wenn ich mich nicht gerade auf etwas anderes konzentrieren muss. Also es gibt vermutlich keine Stunde in meinem Alltag, in der nicht irgendwas, was mit dem Sport zu tun hat, in meinem Kopf unterwegs ist. Sozusagen das Grundrauschen. 

Ben: Gab es Rückschläge in deiner sportlichen Karriere?

Sven: Ja klar, massig. In der Anfangszeit, als ich noch MMA (Mixed Martial Arts) gemacht habe, sowieso. Ich hatte 7 Profikämpfe, von denen habe ich 3 verloren. Eine Zeit lang hatte ich Verletzungen ohne Ende. Mein Knie hat mir immer mal wieder Probleme gemacht. Mal abgesehen davon, dass ich insgesamt 3 Mal aus 2 Teams geflogen bin.

Ben: Und wie bist du damit umgegangen?

Sven: Ich habe schon lange akzeptiert, dass Rückschläge mit dazu gehören. Es funktioniert nicht einfach so perfekt, ohne dass man irgendwann mal auf die Schnauze fällt. Erst recht nicht, wenn man so eine Art am Leib hat, wie ich. Ganz wichtig ist es, das zu akzeptieren und die Verantwortung dafür zu übernehmen, was um einen herum passiert. Und natürlich sollte man versuchen, etwas daraus zu lernen. Dazu gehört, sich zu überlegen, ob man alles so gemacht hat, wie man es für richtig gehalten hat. Wenn ja: Dann ist das halt so! Wenn nein muss man eben versuchen, den Fehler beim nächsten Mal zu vermeiden.

Ben: Hast du schonmal das Interesse an deinem Sport verloren?

Sven: Nein. Ich mache ja schon Kampfsport, seit ich ein Kind bin. Ich stand nach meinem ersten Grappling-Training völlig fertig in der Umkleide. Wie das so ist, wenn man den Sport noch nie gemacht hat, man kann erstmal gar nichts und wird dementsprechend fertig gemacht. Und trotzdem weiß ich noch genau, den ersten Gedanken, den ich hatte: Ok, genau das mache ich, bis ich tot bin. Und ich gehe mit jedem Tag mit wachsender Begeisterung auf die Matte. Also dieser Gedanke hat nie nachgelassen, wird eher nur noch stärker.

 

Ben: Auch in den Zeiten, als du aus dem Team geflogen bist?

Sven: Ja, da hat mich am meisten genervt, dass ich nicht trainieren konnte. Also da war ich eher so: „Toll, jetzt fehlen mir 3 Trainingstage“. Und ich bin dann eben am nächsten Tag irgendwo bei irgendwem mit trainieren gegangen, weil das erstmal wichtiger war. Also ich habe nie das Interesse verloren.

Ben: Hast du viele Interessen?

Sven: Ich habe eine ziemlich fanatische Veranlagung, also sehr nerdig. Ich glaube, wenn ich nie einen Sport gefunden hätte, wäre ich so jemand, der beispielsweise das komplette Herr-der-Ringe-Universum auswendig kennt. Ich habe die Neigung dazu, mich wie ein Verrückter in Sachen reinzuwerfen, wenn sie mich grundsätzlich interessieren. Nur dass bei fast allem irgendwie mal ein Ende in Sicht ist. Ich fand zum Beispiel eine Zeit lang mal Bonsais (jap. Pflanze) total faszinierend. Ich könnte dir auch jetzt noch erklären, wie man die in die Form kriegt, in der man sie haben will und so weiter. Aber als ich das dann einmal alles gesehen hatte, fand ich das langweilig und hab damit wieder aufgehört. Also wenn ich das Gefühl habe, da ist ein Ende erreicht, lasse ich es auch wieder sein. Und das Geile ist halt, dass Jiu Jitsu auch so etwas ist, wo man sich vollkommen reinwerfen kann, wo aber nie ein Ende in Sicht ist. Es gibt immer noch etwas Neues zu entdecken.

Ben: Hat der Sport dich auch etwas gelehrt?

Sven: Ja definitiv. Manchmal ist es etwas schwer zu trennen, was ich da reingetragen habe und was der Sport mir zurückgegeben hat. Aber ich glaube die Lektionen sind ziemlich endlos. Sei es Durchhaltevermögen, oder dass du vor der Sache nie den Respekt verlierst, weil da immer noch mehr ist. Ebenso die Dinge, die ich als Lehrer und Coach gelernt habe, über Führungsqualitäten und Anführer sein. Auch da bin ich anfangs viel auf die Schnauze gefallen. Ich habe zum Beispiel die Neigung, viel zu viel zu Micro-Managen. Es ist natürlich immer die Frage nach dem Huhn oder dem Ei. Ich war auch vor dem Jiu Jitsu schon ein Sturkopf, wahrscheinlich hat da hat meine Grundveranlagung einen guten Katalysator gefunden, der das gefördert hat. Jiu Jitsu ist kein Mannschaftssport, in dem man negative Leistungen ein Stück weit auf andere abwälzen kann, manchmal sogar zurecht. Außerdem ist es ein Kampfsport. Da bist du dem Leidensdruck sehr unmittelbar ausgesetzt, einfach weil jemand anderes versucht, dir wirklich weh zu tun. Das lehrt einen schon sehr viel.

Ben: Hast du Empfehlungen für Sportler, die vielleicht manchmal Probleme haben über lange Zeit dran zu bleiben?

Sven: Einerseits glaube ich, das Ganze macht nur dann Sinn, wenn man den Sport oder die Tätigkeit findet, die einem wirklich entspricht. Das klingt esoterischer, als es eigentlich ist. Nenne es innere Stimme oder Berufung. Ich glaube, dass es etwas sein muss, was in einem irgendwie angelegt ist. Und das merkt man relativ schnell. Zumindest bei mir war das so: Ich habe recht schnell gemerkt, dass Jiu Jitsu genau das ist, was ich machen will. Ich denke das muss man rausfinden, egal ob es ein Instrument spielen oder ein bestimmter Sport ist. Nur dann ist es die Sache wirklich wert. Und auf der anderen Seite ist es so: Motivation ist zwar nett und die wird man wahrscheinlich auch haben, wenn man merkt, dass es genau die Sache ist, die man will. Aber Motivation ist kein wichtiger Faktor. Motivation ist ein bisschen wie Talent: Selbst wenn es das gibt, ist das relativ unerheblich, weil man es nicht groß beeinflussen kann. Was man braucht, ist Disziplin. Wenn man die nicht von vornherein hat oder schon mal bei etwas anderem entwickelt hat, weil es beispielsweise früh schon notwendig war, muss man sie entwickeln.

Ben: Und wie entwickelt man Disziplin?

Sven: Ich glaube, dass es sehr wichtig ist, sich die ganzen Dinge bewusst zu machen, die einen von dem Ziel abhalten. Also beim Training beispielsweise: Da ist der eine Typ, der mich immer platt macht oder das aktuelle Thema fällt mir schwer. Im ersten Schritt nimmt man diese ganzen Dinge wahr. Und dann muss man lernen, das bewusst zu ignorieren und trotzdem hin zu gehen. Da gibt es natürlich tausend Tricks. Sei das jetzt ein Trainingspartner, mit dem man sich zum verabredet oder sonst was. Wichtig ist, dass man es macht, und irgendwann ist es dann selbstverständlich wie der tägliche Kaffee, dass man abends zum Training geht. Es gibt zwei Bücher, von denen ich mir gewünscht hätte, dass ich sie viel früher gelesen hätte, weil da im Wesentlichen genau das drin steht, was wir gerade besprochen haben. Das ist  „Mastery“ von Robert Greene, da geht es eben darum, seine „Berufung“ zu finden. Seitdem habe ich ein Wort für das, wofür ich das hier eigentlich mache: Medaillen oder etwas in der Art interessieren mich nicht. Mastery ist das, was ich wirklich in diesem Sport erreichen will. Das zweite Buch ist „The Champions Mind“. Da steckt zwar streckenweise viel amerikanisches Pathos drin, aber die Grundidee darin halte ich für wichtig. Und als abschließende Empfehlung: die beste Prosa, die ich zu dem Thema gelesen habe, ist Hemingways „The old man and the sea“. Das ist ein Beispiel für Leidensfähigkeit und Durchhaltevermögen par excellence.

Ben: Sven, vielen Dank für das Interview.

 

 

 

Blog 51 Durchhaltevermögen (GRIT) im Leistungssport – Interview mit Brazilian Jiu Jitsu Athlet Sven Groten

Beitragsnavigation