Gerätturnen ist eine faszinierende Sportart. Sie erfordert eine unglaubliche Präzision und Detailverliebtheit. Den Athlet*innen wird viel abverlangt: Körperspannung, Kraft, Beweglichkeit, Ausdruck, Eleganz, Mut und eine hohe Konzentrationsfähigkeit. Bewertet werden die Schwierigkeit und Ausführung der Elemente. Kampfrichter*innen betrachten die Turnübungen ganz genau und entscheiden über die Platzierungen. Damit ist die Bewertung subjektiv und nicht so leicht nachvollziehbar, wie z.B. beim Sprint, wo die Person gewinnt, die als erstes die Ziellinie überquert. Ein wichtiger Teil der Sportart, über den sie sich auszeichnet, ist die Ästhetik. Alles soll schön und grazil aussehen, die Anstrengung soll für die Zuschauer*innen nicht erkennbar sein. Da in der Sportart Schönheit ein wichtiger Faktor ist, wird auf diese natürlich auch im Training viel Wert gelegt. Dabei kann es dazu kommen, das Idealen nachgeeifert werden, die ungesund und unrealistisch sind.

In diesem Artikel möchte ich dir erklären, welche Folgen diese Nacheiferung für die Athlet*innen haben kann und welche Rolle das Verhalten der Turntrainer*innen dabei spielt. Ich beziehe mich dabei auf das Gerätturnen weiblich, da das Problem dort in den letzten Jahren an Medienpräsenz gewonnen hat und bereits intensiver erforscht ist. Dieser Blogartikel kann aber durchaus auch für Trainer*innen aus anderen Sportarten interessant sein, v.a. für die Arbeit im Jugendbereich. Es bleibt noch zu erwähnen, dass  einige Forschungslücken bestehen und dieser Artikel keine Patentlösungen für ein hochkomplexes kulturelles, soziologisches und psychisches Phänomen bietet. Essgestörte Verhaltensweisen haben in der Regel verschiedene Auslöser, die sich nicht nur auf den Sport beschränken lassen. In diesem Artikel geht es aber nur um den sportlichen Zusammenhang.

Trainer*innen als mögliche Mitauslöser für essgestörte Verhaltensweisen

Das Problem von essgestörtem Verhalten im Leistungssport, speziell im Turnen, ist schon seit einiger Zeit bekannt. Durch den Todesfall der amerikanischen Kunstturnerin Christy Henrich, die 1994 an Organversagen in Folge einer Essstörung verstarb, wurde zum ersten Mal ein größeres Publikum auch außerhalb der Sportart auf dieses Problem aufmerksam. Christy Henrich entwickelte die Krankheit laut Medienberichten nach negativen Kommentaren von ihrem Trainer und einem Kampfrichter über ihren vermeintlich zu „dicken“ Körper (Wikipedia, Christy Henrich). Dieses Ereignis ist mittlerweile 28 Jahre her und trotzdem berichten Turnerinnen auch heute noch davon, dass sie aufgrund von Trainer*innenverhalten ein gestörtes Essverhalten entwickeln.

Trainer*innen in der Prävention

Das dies immer noch der Fall ist kann den Trainer*innen nur bedingt zum Vorwurf gemacht werden. Ein großes Problem ist, dass häufig die nötige Unterstützung des Vereines und Verbandes fehlt, wodurch die Trainer*innen für die Thematik wenig sensibilisiert werden und die Präventionsarbeit allein leisten müssten (Nowicka et al., 2013). Viele verfügen über ein inadäquates Wissen zu sportgerechter Ernährung im Allgemeinen und gestörtem Essverhalten im Speziellen (Cockburn et al., 2014, Juzwiak & Ancona-Lopez, 2004, Torres et al., 2014, Turk et al., 1999). In einer Studie mit deutschen Trainer*innen drückten 80% ihre Unzufriedenheit über die Ernährungslehre in der Ausbildung aus (Lobinger et al., 2010).  Dabei ist Wissen über Risikofaktoren und Auslöser, sowie Anzeichen und Symptome von essgestörtem Verhalten für eine erfolgreiche Prävention entscheidend (Bratland-Sanda & Sundgot-Borgen, 2013).

Personen wie Turntrainer*innen, die hauptsächlich mit jungen Menschen zusammenarbeitet, haben eine große Verantwortung, da sich junge Menschen noch besonders leicht beeinflussen lassen. Trainer*innen gehören zu den wichtigsten Bezugspersonen von Leistungssportler*innen. Vor allem Athletinnen verlassen sich teilweise vollkommen auf Trainer*innen-Aussagen (Swyter, 2007). Somit befinden sich Trainer*innen in der Position, das Essverhalten und die gesamte Einstellung der jungen Leute zum Essen, zu beeinflussen (Juzwiak & Ancona-Lopez, 2004). Es gibt Forscher*innen, die sogar so weit gehen, zu sagen, dass Sportler*innen ihren Trainer*innen eine so hohe Wichtigkeit zuschreiben, dass eine erfolgreiche Prävention von essgestörtem Verhalten ohne den Einsatz und die Unterstützung der Trainer*innen nur schwer möglich wäre (Martinsen et al., 2014).

Grundlagen zu Essstörungen und essgestörten Verhaltensweisen

Um präventiv bei essgestörten Verhaltensweisen und Essstörungen zu handeln, ist es zunächst wichtig zu verstehen, was diese Verhaltensweisen überhaupt sind.

Bei einem essgestörten Verhalten liegen einzelne Symptome einer Essstörung vor, ohne dass die Kriterien für eine klinisch diagnostizierbare Essstörung erfüllt werden. Es kommt zu Verhaltensweisen, wie selbst induzierter eingeschränkter Nahrungsmittelaufnahme, zwanghaftem Essen, zwanghaftem Sporttreiben, Erbrechen, kurzfristigen Diäten, die zu Nährstoffmängeln führen, Essattacken und/oder Missbrauch von gewichtsreduzierenden Medikamenten (Stoyel at al., 2021, Wells et al., 2020). Gestörtes Essverhalten liefert wichtige Hinweise für die Früherkennung klinisch relevanter Essstörungen (Richter et al., 2014) und wird als Risikoverhalten für die Entwicklung einer Essstörung angesehen (Linardon et al., 2018). Zu den klinischen Essstörungen, bei denen es Betroffenen darum geht, möglichst dünn zu werden oder zu bleiben zählen die Anorexia nervosa und die Bulimia nervosa. Im Folgenden sind die Diagnosekriterien nach der ICD-10, der internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, dieser Krankheitsbilder aufgelistet.

Anorexia nervosa:

  1. Gewichtsverlust oder bei Kindern fehlende Gewichtszunahme. Dies führt zu einem Körpergewicht von mindestens 15% unter dem normalen oder dem für das Alter und die Körpergröße erwarteten Gewicht.
  2. Der Gewichtsverlust ist selbst herbeigeführt durch die Vermeidung von „fettmachenden“ Speisen.
  3. Selbstwahrnehmung als „zu fett“, verbunden mit einer sich aufdrängenden Furcht, zu dick zu werden. Die Betroffenen legen für sich selbst eine sehr niedrige Gewichtsschwelle fest.
  4. Umfassende endokrine Störung der Achse Hypothalamus-Hypophyse-Gonaden; sie manifestiert sich bei Frauen als Amenorrhoe, bei Männern als Interessenverlust an Sexualität und Potenzverlust. Eine Ausnahme stellt das Persistieren vaginaler Blutungen bei anorektischen Frauen dar, die eine Hormonsubstitution erhalten (meist als kontrazeptive Medikation).
  5. Die Kriterien A. und B. für eine Bulimia nervosa werden nicht erfüllt.

(Dilling & Freyberger, 2019, S. 205 – 206)

Bulimia nervosa

  1. Häufige Episoden von Fressattacken/Esstaumel (in einem Zeitraum von drei Monaten mindestens zweimal pro Woche), bei denen große Mengen an Nahrung in sehr kurzer Zeit konsumiert werden.
  2. Andauernde Beschäftigung mit dem Essen, eine unwiderstehliche Gier oder Zwang zu essen („craving“).
  3. Die Patienten versuchen, der Gewichtszunahme durch die Nahrung mit einer oder mehreren der folgenden Verhaltensweisen entgegenzusteuern:
  4. selbstinduziertes Erbrechen
  5. Missbrauch von Abführmitteln
  6. zeitweilige Hungerperioden
  7. Gebrauch von Appetitzüglern, Schilddrüsenpräparaten oder Diuretika. Wenn die Bulimie bei Diabetikern auftritt, kann es zu einer Vernachlässigung der Insulinbehandlung kommen.
  8. Selbstwahrnehmung als „zu fett“, mit einer sich aufdrängenden Furcht, zu dick zu werden (was meist zu Untergewicht führt).

(Dilling & Freyberger, 2019, S. 208)

Die gesundheitlichen Auswirkungen von essgestörten Verhaltensweisen und Essstörungen sind weitreichend und dürfen nicht unterschätzt werden. Zu Beginn dieses Artikels habe ich bereits über eine Athletin berichtet, die an einer Essstörung gestorben ist. Damit ist sie kein Einzelfall. Essstörungen haben eine der höchsten Sterberaten aller psychischen Krankheiten (Harris & Baraclough, 1998; Joy et al., 2016 nach Mehler & Brown, 2015). Auf physischer Ebene können außerdem Herzprobleme, Unfruchtbarkeit, Magen-Darm-Probleme, neurologische Defizite und Entwicklungsverzögerungen auftreten (Tan et al., 2016).

Risikofaktoren für die Entwicklung essgestörter Verhaltensweisen

Für eine erfolgreiche Prävention ist außerdem wichtig zu verstehen, was besondere Risikofaktoren für essgestörte Verhaltensweisen sind. Dies sind zum einen das Teenageralter im Zusammenhang mit der Pubertät (Kipp & Weiss, 2013, Kipp et al., 2019, Villa et al., 2021), Unzufriedenheiten mit dem eigenen Körper (de Bruin et al., 2011, Stice et al., 2011) und die Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht (Schaal et al., 2011, Sundgot-Borgen & Torstveit, 2004). Leistungssportler*innen gehören auch zu einer der Risikogruppen essgestörter Verhaltensweisen. In einer Studie, bei der Leistungssportlerinnen mit Nicht-Leistungssportlerinnen verglichen wurden, wiesen 20% der Leistungssportlerinnen Essstörungssymptome auf. Bei den Nicht-Leistungssportlerinnen waren es 9% (Sundgot-Borgen & Torstveit, 2004). Die Prävalenz für die Entwicklung von essgestörtem Verhalten ist allerdings nicht bei jeder Sportart gleich. Ausdauersportarten, Gewichtsklassensportarten und ästhetische Sportarten weisen vergleichbar hohe Anteile essgestörter Athlet*innen auf und bilden dadurch die Gruppe der Risikosportarten (Jankauskiene et al., 2020, Schaal et al., 2011, Schek et al., 2002). Ein häufiger Grund für die Entwicklung von essgestörtem Verhalten im Sport sind unüberwachte Diäten (Sundgot-Borgen, 1992), die von Sportler*innen durchgeführt werden, da sie sich durch den Verlust an Gewicht eine Leistungssteigerung erhoffen (Krentz & Warschburger, 2011, Martinsen et al., 2010).

Zusätzlich besteht ein Risiko, das Sportler*innen essgestörte Verhaltensweisen aufweisen, wenn der Umgang der Trainer*innen mit der Thematik Figur und Gewicht die Turnerinnen unter Druck setzt. Es ist schon länger bestätigt, dass unüberlegte negative Kommentare von Trainer*innen über die Figur oder das Gewicht der Athlet*innen sie negativ in Hinsicht auf Körperwahrnehmung und Essverhalten beeinflusst (Biesecker & Martz, 1999, Kerr et al., 2006). Weiter oben habe ich schon einmal erwähnt, wie sehr sich Athlet*innen von Trainer*innen beeinflussen lassen. Diese Aussage wird zusätzlich dadurch bestärkt, dass in einer Studie 71% der Turnerinnen, die schon einmal einen negativen Kommentar über ihren Körper gehört hatten, das Gefühl bekamen, Gewicht verlieren zu müssen (Muscat & Long, 2008). Gerade in ästhetischen Sportarten beschreiben Trainer*innen, als wie wichtig sie das Aussehen der Athletinnen für die Leistungserbringung und -bewertung wahrnehmen. Dadurch und durch den oft eher lockeren Umgangston, der in der Turnhalle gepflegt wird, kommt es leicht zu unsensiblen, manchmal beleidigenden Aussagen über das Gewicht und Aussehen der Turnerinnen (Lobinger et al., 2010).

Je nachdem wie die Trainer*innen das aktuelle Gewicht oder Aussehen der Turner*innen bewerten, geben sie ihnen häufig die Aufgabe, ihr geringes Gewicht zu halten oder zusätzlich Gewicht zu verlieren, aber bieten keine Hilfestellungen an, wie dies auf einem gesunden Weg erreicht werden kann (Stewart et al., 2017). Viele Turnerinnen greifen deshalb auf inadäquate Methoden zur Gewichtsreduktion wie z.B. Fasten, selbst induziertes Erbrechen oder exzessives Sporttreiben zurück.

Ich hoffe, dass dir mein Artikel gefallen hat.

( Vielen Dank für die Unterstützung durch Rebekka.)

 

Deine fitmitgrit.                                                                                                     Köln, am 17.5.2022

 

 

Blog 99 Teil 1- Der Umgang von Trainer*innen mit essgestörten Verhaltensweisen im Turnen

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