Sicher kennst du das: Du schaust in den Spiegel und siehst bestimmte Stellen an deinem Körper, die dir nicht so gut gefallen. Vielleicht hier und da ein paar Gramm zu viel, unreine Haut im Gesicht oder eine zu große Nase. Das ist ganz normal und war auch schon immer so. Bereits in der Antike gab es Statuen von idealen Körpern – „Adonis“ als Sinnbild für die perfekte männliche Figur. Seit dem letzten Jahrhundert werden uns in Hochglanzmagazinen und in der Werbung perfekte Models gezeigt, die scheinbar körperliche Vollkommenheit erreicht haben: schlanke, sportliche und gesunde Menschen, die vor traumhafter Kulisse posieren. Das schafft Ideale – die für die Mehrheit der Menschen unerreichbar bleiben. Seit relativ wenigen Jahren gibt es die sozialen Medien. Besonders Bild-orientierte Apps wie Instagram bieten eine perfekte Plattform, um körperliche Leitbilder zu prägen. Doch hier wird mit allen Mitteln gearbeitet, die die digitale Trickkiste hergibt: Bäuche werden verkleinert, Haut geglättet, Hüften verbreitert. Mit Photoshop sind der Phantasie keine Grenzen gesetzt, und Profis können aus durchschnittlich gut aussehenden Personen perfekte Models zaubern. Das Problem: Der Standard wird immer höher. Denn um sich von der Masse abzuheben, muss das nächste Bild noch schöner, das Äußere noch makelloser werden. Damit beginnt eine Spirale hin zu immer künstlicheren, immer weniger menschlichen Protagonisten auf diesen Plattformen. Nicht umsonst steigt die Anzahl der durchgeführten Schönheitsoperationen seit Jahren rasant an. Im Jahr 2019 wurden weltweit ca. 24 Millionen solcher Eingriffe durchgeführt – das sind 10 Millionen mehr als 2010, ein Anstieg von rund 66% (Quelle: Statista). Auch für Sportler spielt die Selbstpräsentation auf Social Media eine wichtige Rolle, und auch hier geht es darum, sich möglichst makellos darzustellen. Die deutsche Leichtathletin Alica Schmidt beispielsweise hat 1,8 Millionen Follower auf Instagram. Sie wurde 2017 von einem amerikanischen Blog zur „world’s sexiest athlete“ gekürt – und profitiert stark von ihrer Schönheit: Sie hat einen Sponsoring-Vertrag mit Puma ( keine Werbung) und steht auch ab und zu als Model vor der Kamera.
Angesichts dieser Welt voller unerreichbar gut aussehenden Menschen ist es nur natürlich, dass viele das eigene Erscheinungsbild in Zweifel ziehen. Ein gewisses Maß an Selbstkritik ist dabei nicht schlimm: Eine vitaminreiche Ernährung für das Hautbild und gegen überschüssige Pfunde kann sehr positive Auswirkungen auf die Gesundheit und das Wohlbefinden haben. Krafttraining ist vor allem unter jungen Männern in den letzten Jahren immer beliebter geworden, um eine muskulöse Figur zu entwickeln – daran ist ebenso nichts auszusetzen. Doch gefährlich wird es, wenn die Beschäftigung mit dem eigenen Körper überhandnimmt. Essstörungen und andere Störungen können die Folge sein und sind gerade unter jungen Menschen heutzutage verbreitet wie noch nie. Die psychische Erkrankung, um die es in diesem Kapitel gehen soll, ist die sogenannte körperdysmorphe Störung oder Körperschemastörung (das Fachwort lautet „Dysmorphophobie“). Das bedeutet soviel wie „Furcht vor der Missgestaltung des Körpers“. Sie ist gekennzeichnet durch eine übermäßige Beschäftigung mit einer eingebildeten körperlichen Entstellung. Ist ein leichter Mangel vorhanden, wird die Besorgnis stark übertrieben. Außerdem verursacht diese Beschäftigung bei den Betroffenen einen Leidenszustand und beeinträchtig sie in ihren sozialen Beziehungen. Scham gegenüber Mitmenschen ist an der Tagesordnung. Sehr häufig geht die körperdysmorphe Störung mit anderen psychischen Beeinträchtigungen einher, wie zum Beispiel Depressionen oder sozialer Phobie. Um den eingebildeten (oder realen) Mängeln entgegenzuwirken, werden nicht selten chirurgische Eingriffe vorgenommen, beispielsweise Brustvergrößerungen oder Behandlungen mit Botox. Häufig betroffene Körperteile sind die Haut, die Haare, Nase, Augen, Beine, Brust, Bauch, Hüften oder Lippen. Eine Sonderform der Dysmorphophobie ist der „Adonis-Komplex“ (Fachbegriff: muskeldysmorphe Störung). Hierbei werden nicht einzelne Körperpartien als entstellt wahrgenommen, sondern der gesamte Körper wird als zu klein und schmächtig erlebt. Diese Form findet sich vor allem unter jungen Männern. In einer Studie aus dem Jahr 2018 wurde auf eine neue Form der Körperschemastörung aufmerksam gemacht: Die sogenannte „Snapchat-Dysmorphophobie“. Die Forscher stellten fest, dass es bei vielen Betroffenen zu einer neuen Symptomatik kam: Die eingebildeten Mängel wurden ausgelöst durch Filter in Anwendungen wie Snapchat oder Instagram. Diese Filter lassen in Sekunden die Haut glatt und ebenmäßig werden, verlängern die Wimpern oder machen den Kiefer kantiger. Die Betroffenen wünschen sich dann, dass ihr Äußeres diesem künstlichen Bild im Smartphone gleicht. Unmenschliche Erwartungen werden aufgebaut. Solche Bildbearbeitungsfilter gibt es längst in so gut wie allen Social Media App.
Ein prominentes und sehr plastisches Beispiel für eine Körperschemastörung ist der Popsänger Michael Jackson. Er stand sein Leben lang mit seinem Aussehen auf Kriegsfuß und unterzog sich unzähligen Schönheitsoperationen. Seine ehemals schwarze Haut ließ er bleichen, die Lippen künstlich röten und die Nase stark schmälern. Hier zeigt sich der perfide Charakter dieser Erkrankung: Die plastischen Eingriffe konnten Jackson nie lange zufriedenstellen, bald schon wurde die nächste OP geplant. Ein Teufelskreis.
Die Körperschemastörung beeinflusst die mentale Gesundheit eines Sportlers und wenn dieser aus seiner seelischen Balance geraten ist, wird es immer schwerer, mentale Stärke zu entwickeln. Die sportliche Leistung fällt ab und ein weiterer Teufelskreis setzt sich in Gang. Misserfolge durch Leistungseinbußen, fehlende Qualifikationen, weniger Wettkämpfe, weniger Aufmerksamkeit usw. Die Folge davon können Depressionen, Suchtentwicklung und Suizid sein.
Ein weiteres Problem besteht darin, dass Betroffene sich oft erst spät oder gar nicht therapeutische Hilfe suchen. Manchmal aus Scham, manchmal wissen sie aber auch gar nicht, dass sie krank sind. Dabei lässt sich die Störung gut therapieren:
In einer Metastudie konnte gezeigt werden, dass kognitive Verhaltenstherapie sehr gute Effekte bei der Behandlung der Dysmorphophobie zeigt. Auch medikamentöse Behandlungen scheinen wirksam zu sein, wenn auch etwas weniger stark. (Williams, J, Hadjistavropoulos, T. & Sharpe, D., 2006)
Experten gehen davon aus, dass 1-2% der Menschen von einer körperdysmorphen Störung betroffen sind. Die folgende Liste enthält Hinweise, die auf das Vorliegen einer solchen Erkrankung schließen lassen können:
– Häufiges Überprüfen des äußeren Erscheinungsbildes im Spiegel – Vermeiden von Spiegeln, weil der Anblick des eigenen Körpers unerträglich scheint – Anhaltende Versuche, andere Menschen zu überzeugen, dass etwas mit dem eigenen Erscheinungsbild nicht in Ordnung sei – Hoher Zeitaufwand für Überprüfung/Korrektur des eigenen Erscheinungsbildes – Klagen der Familienmitglieder über ständige Nutzung des Bades – Unangemessenes Bedecken oder Verstecken von Körperteilen mit Hut, Make-Up, Kleidung etc. – Hartnäckige Überzeugung, von anderen Menschen angeschaut/negativ beurteilt zu werden – Hoher Zeitaufwand zur Beschaffung von Informationen zur Verschönerung des eigenen Körpers – Hartnäckiger Wunsch nach Schönheitsoperationen, obwohl andere Menschen das für unangemessen erachten – Unzufriedenheit mit einer durchgeführten Schönheitsoperation – Häufige Verspätung aufgrund des Aufwandes für die Korrektur des Erscheinungsbildes – Schwierigkeiten, Komplimente in Bezug auf das eigene Äußere anzunehmen – Schwierigkeiten, den Körper entblößt zu zeigen (Schwimmbad, Sauna) – Schwierigkeiten in oder Vermeidung von sexuellen Beziehungen
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Reflexion: Wenn einige der Punkte diese Liste auf dich zutreffen und du das Gefühl hast, durch sie eine Einschränkung und Leiden in deinem Leben zu erfahren, solltest du ärztlichen oder psychologischen Rat aufsuchen.
Quellen:
https://de.statista.com/statistik/daten/studie/702578/umfrage/laender-mit-der-hoechsten-anzahl-an-schoenheitsoperationen/ (abgerufen am 11.07.2021)
Rajanala, S., Maymone, M.B.C. & Vashi, N.A. (2018). Selfies – Living in the Era of Filtered Photographs. JAMA Facial Plastic Surgery, 20(6), 443-444.
Williams, J, Hadjistavropoulos, T. & Sharpe, D. (2006). A meta-analysis of psychological and pharmacological treatment for Body Dysmorphic Disorder. Behaviour Research and Therapy, 44, 99-111.
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PS: (Ich bedanke mich für die Unterstützung durch Benedikt Heuser.)
LG fitmitgrit